Christoph Hein - Verwirrnis

Vier Jahre ist es her, dass Jakob Hein anlässlich des 70ten Geburtstages seines Vaters einen offenen Brief schrieb, in dem er ihm unmissverständlich zu verstehen gab, dass er seinen "Laden" (Schriftstellerei) auch nach seinem Ehrentag selbst würde weiterführen müssen, da er, der Sohn, weder bereit noch imstande sei, diesen zu übernehmen. Der Vater, Christoph Hein, tat, wie ihm geheißen,  führte fleißig weiter und veröffentlichte seit 2010 unter anderem [sic] vier Romane. Gerade erst erschien sein neuestes Werk „Verwirrnis“, in dem der Autor von einer geheimen Liebe in „unruhigen Zeiten“ erzählt. 

Aha. So so. Gewiss gab es schon Umschlagtexte, die etwas packender formuliert waren. Darauf angewiesen ist Christoph Hein aber nicht. Weil wegen … naja, Christoph "großer deutscher Chronist" Hein eben. Stark verkürzt lässt sich sagen, dass "Verwirrnis" mit schwuler Liebe anfängt und mit lesbischer Liebe endet. Einwände dergestalt, dass Liebe für alle da ist und es da keiner Konkretisierung braucht, die immer auch Abgrenzung ist, sind a) richtig und b) auch.
In "Verwirrnis" allerdings ist es genau diese Einordnung, die eine alles entscheidende Rolle spielt, wie man sich vorstellen kann, weiß man um ein paar biografische Eckdaten der Protagonisten :

  • Jugend im Deutschland der 1950er Jahre
  • aufgewachsen in katholischer Provinz (Heiligenstadt im Eichsfeld, quasi das Bayern Thüringens)
  • strenggläubiger Vater (passenderweise namens Pius -  Studienrat und Befürworter körperlicher Züchtigung)

                                                                       ... und ON TOP ...

  • homosexuell                                                

Die Situation ist also denkbar ungünstig für die Protagonisten Friedeward und Wolfgang, die einander lieben. Sie sind jung (sind halt die 50er, da hießen Menschen schon mal älter als sie waren), beste Freunde und überdies auffallend wenig an Mädchen, dafür auffallend schnell auffallend aneinander interessiert. Ein emotionales Win-Win also und so, wie man sich Liebe wünscht. Nämlich nachhaltig, aufrichtig und erwidert. Das sehen jedoch bei Weitem nicht alle so. Allen voran Friedewards strenggläubiger Vater, für den gleichgeschlechtliche Liebe keine Liebe, sondern Sodomie und damit eine Sünde ist. Herzlichen Glückwunsch. Friedeward und Wolfgang ist also bewusst, dass sie alles verlieren könnten, käme ihre Beziehung ans Licht. Über Jahre sind sie gezwungen, ihre Liebe geheim zu halten - Gedanken an eine Scheinehe zwischen Wolfgang und dessen (heterosexueller) Jugendfreundin Helga inklusive.

Etwas mehr Freiheit verspricht ihnen der Weggang zum Studium nach Leipzig - Friedeward studiert Germanistik, Wolfgang Musik. Dort, in Leipzig, finden sie nicht nur eine flirrende Welt gefeierter Intellektueller, sondern treffen erstmals auch auf andere Homosexuelle. Wie Jacqueline, die eine heimliche Beziehung zu einer Dozentin hat. Wäre da nicht allen geholfen, wenn Friedeward Jacqueline zum Schein heiraten würde? Gefragt, getan. Und so arbeiten die Vier an einer Tarnung, die ihrer geheimen "Liebe in unruhigen Zeiten" die größtmögliche Freiheit verspricht. Inwieweit das gelingt, wo die Freiheit aufhört, wo eine neue beginnt und wie sie damit umgehen, von all dem erzählt Christoph Hein in "Verwirrnis".

Verwirrnis ohne Enthemmnis

Wer Enthemmung, Begierde, Ekstase, Lust und entsprechend explizite Beschreibungen erwartet, erwartet umsonst. Hein erzählt sachlich, dezent, sparsam. Eher stellt sich ein Gefühl von "Steckmodulromantik" und der Gedanke an grafische Abbildungen aus dem Biologie-Lehrbuch ein, inklusive Bildunterschriften à la "Abb. li.: ein unversehener Samenerguss / Abb. re.: das männliche Glied". Im Mittelpunkt von "Verwirrnis" steht also nicht (lies: keinesfalls!) Wolfgangs und Friedewards sexuelle Beziehung.

Wer sich für explizite Darstellung körperlichen Begehrens interessiert, wird aber wohl auch kaum zu einem Werk von Christoph Hein greifen. Denn der Schriftsteller Hein ist, was er ist: vor allem Chronist. Also gemäß Duden "jemand, der ein Geschehen verfolgt, beobachtet und darüber berichtet." Und so berichtet Hein in "Verwirrnis" von der engen, jahrzehntelangen Verbindung Friedewards und Wolfgangs. Berichtet von einem Vater-Sohn- Konflikt, von geheimgehaltener Liebe, von politischen Verwicklungen an der Universität in Leipzig. Unaufdringlich flicht er dabei zeitgeschichtliche Ereignisse, wie den 17. Juni, den Mauerbau, das Strafrechtsänderungsgesetz zu § 175 StGB, Mauerfall und Wende in die Lebensläufe seiner Figuren ein.

geschäftlicher Termindruck

Dabei scheint es allerdings, als sei der Autor einiger seiner Figuren und deren Biografien unterwegs überdrüssig geworden. Während manch zwischendurch vernachlässigter und in Vergessenheit geratener Charakter überraschend wiederaufgenommen wird (wenn auch anscheinend nur fürs Protokoll), werden andere, maßgebliche Erzählstränge so zügig fertigerzählt, dass es überstürzt wirkt, gekappt. Als gelte es, die "Verwirrnis" möglichst schnell zu beenden, um etwas neues anfangen zu können. Den Laden eben weiterzuführen - ganz im Sinne seines Sohnes und Heins zahlreichen Leser_innen. "Verwirrnis" ist vielleicht nicht sein bestes Werk. Aber immer nur beste Werke zu schreiben ist ja per se nicht möglich. Vielleicht wird das nächste ja wieder "sein bestes" oder anderweitig superlativ. Darauf freuen kann man sich auf jeden Fall schon mal. Wenn er seine Schaffens- und Publikationsfrequenz beibehält, dürfte es wohl bald soweit sein. Vorher (oder auch nebenbei) kann man sich einfach auf die anstehenden Lesungen zu "Verwirrnis" freuen. Denn glücklicherweise übernimmt der "Ladenbesitzer" Christoph Hein auch seine Außentermine höchstselbst.