Ein anderes Wort für komisch

 

Ausgerechnet auf unserem letzten Foto lachen wir nicht. Du nicht, ich nicht und auch nicht Marie. Keine zusammengekniffenen, spaßbefeuchteten Augen oder vom Gelächter gekrümmten Oberkörper. Keine luftgefüllten Wangen, nur ein Wort, nur einen Blick vom Losprusten entfernt. Keine freigelachten Zahnreihen bei uns und auch kein freigelachtes Zahnfleisch bei Marie. Keine herausgestreckten Zungen oder hochgezogenen Oberlippen, keine verdrehten Pupillen hinter viel zu hässlichen Brillen, keine schiefgelegten Köpfe unter viel zu edlen Hüten - nichts davon. Keine Ähnlichkeit mit uns; mit den Fotos an unserem hundert Jahre alten Kühlschrank oder der speckigen Pinnwand im Flur - ebenso wenig wie mit denen am Badspiegel, an der Wohnungstür oder im colaklebrigen, tabakkrümeligen Handschuhfach deines alten Corsa.

 

Nicht gelacht haben wir vorher nur auf einem Bild. Das allerdings gibt es zweimal: einmal in deinem Portemonnaie, einmal in meinem. Da, wo besondere Bilder eben aufbewahrt werden. Besonders schöne oder besonders seltene. Weil für unsere besonders schönen alle Portemonnaies der Welt nicht gereicht hätten, haben wir uns für das besonders seltene entschieden. Das, auf dem Du nach mir trittst, weil ich kurz zuvor deinen Superkipper kaputtgemacht habe. Zwei unendlich lange Tage stand unsere Freundschaft damals auf der Superkippe. Muss noch vor unserer Einschulung gewesen sein. Sonst wäre Marie mit drauf und hätte in ihrem Portemonnaie auch ein besonders seltenes Foto gehabt. Und auch vom zweiten Bild auf dem keiner lacht, wird sie, obwohl sie dieses Mal mit drauf ist, keinen Abzug bekommen. Ebenso wenig wie Du. Nur ich als Fahrzeughalter habe einen. Drei krisselige, nicht lachende, schwarzweiße Noch-Insassen meines noch sechsscheibigen Dreitürers. Du und ich vorne, Marie mittig auf der Rückbank - den Oberkörper vorgebeugt, den Kopf auf gleicher Höhe mit unseren. Mit der Fellkapuze, die ihr Gesicht wattiert und ihren zottelbeschuhten Füßen, die sie auf der Mittelkonsole abgestellt hat, sieht sie aus wie ein Yeti. Genau zwischen uns.

 

Alles wieder wie immer. Und trotzdem: Trotzdem das zwischen Marie und mir - deiner, meiner und Maries Freundschaft wegen - geklärt war, siehst Du angestrengt aus. Konzentriert. So, als strengtest Du Dich an, konzentriert auszusehen. Ich hingegen sehe gar nicht aus; nur aus dem Fenster. Trinke ein Bier Richtung Pfand. Schnipse ein zigarettenes Glühwürmchen in die Nachtluft. Um 02:31 Uhr vor fast genau fünf Monaten.

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Farbenleere
Kurzgeschichte / "Der Rest ist das, was übrig bleibt"
ISBN: 978-3-00-036526-3
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