Szczepan Twardoch – Der Boxer // Ring frei zur Berlinpremiere

In der Ankündigung zur Berlinpremiere von Szczepan Twardochs jüngstem Roman „Der Boxer“ heißt es: „Ein Panorama mit Sportlern & Schurken, glamourösen Huren & charismatischen Gangstern“. Das galt natürlich nicht dem Publikum, das sich am Veranstaltungsabend überzahlreich [sic!] im Georg-Büchner-Buchladen einfand (zu Teilen aber sicher auch sportlich, glamourös und charismatisch war), sondern dem neuen, im Januar im Rowohlt Verlag erschienenen Roman des als herausragend geltenden Autors polnischer Gegenwartsliteratur, Szczepan Twardoch, den dieser nun gemeinsam mit seinem Übersetzer Olaf Kühl vorstellte.

Wie in seinen von Kritik und Leserschaft gleichermaßen gefeierten Vorgängern "Morphin" und "Drach" nimmt Twardoch auch in seinem Werk "Der Boxer" nicht die Gegenwart sondern die Vergangenheit in den Blick. Warum er keine Romane über die Gegenwart schreibt?  Weil er es, wie er sagt, „einfach nicht kann“. Dem 38-jährigen Erfolgsliterat sei sie zu schnelllebig, die Jetzt-Zeit, zu kleinteilig und zu flackernd, als dass er sie zu Literatur machen könne. Anders die Vergangenheit, über die zu schreiben für ihn Mittel sei, etwas über die Gegenwart zu erfahren.

Im Falle von „Der Boxer“ versucht er dies anhand des polnisch-jüdischen Warschaus der späten 1930er Jahre, konkret das Jahr 1937, in dem er seinen Roman um den fiktiven Protagonist Jakub Shapiro ansiedelt. Shapiro, so verrät es der Klappentext, ist ein hoffnungsvoller junger Boxer und überhaupt sehr talentiert. Das erkennt auch der mächtige Warschauer Unterweltpate Kaplica, der Shapiro zu seinem Vertrauten macht. Rechte Putschpläne gegen die polnische Regierung bringen das Imperium Kaplicas in Bedrängnis; er kommt in Haft, als ihm ein politischer Mord angehängt wird. Im Schatten dieser Ereignisse bricht ein regelrechter Krieg der Unterwelt los. Jakub Shapiro muss die Dinge in die Hand nehmen: Er geht gegen Feinde wie Verräter vor, beginnt – aus Leidenschaft und Kalkül – eine fatale Affäre mit der Tochter des Staatsanwalts, muss zugleich seine Frau und Kinder vor dem anschwellenden Hass schützen – und nimmt immer mehr die Rolle des Paten ein.

 

Herausgekommen ist ein mit authentischen historischen Details und Thrillerelementen genährter, einfallsreich konstruierter  Roman, der nicht zuletzt seiner virtuosen Sprache von Kritik und Leserschaft gleichermaßen beklatscht und seiner politischen Verortung wegen mitunter auch als politisches Statement von besonderer Aktualität verstanden wird.  Dem allerdings, so versichert Twardoch, sei nicht so. Ja, auch ihn, der zwar polnischer Schriftsteller vor allem aber, wie er stets betont, Schlesier ist, beschäftigen Fragen nach Identität. Auch er verabscheue Antisemitismus und auch er beobachte die gegenwärtigen Geschehnisse in dem von der nationalkonservativen PiS-Partei regierten Polen mit Sorge. Allerdings sei ihm nicht daran gelegen, seine Meinung zu aktuellen Ereignissen in seine Romane einfließen zu lassen. Diese äußere er, wie er sagt, stets offen und direkt in anderen Foren - und nicht versteckt innerhalb seiner Werke.  Es sei zwar großartig, wenn seine Literatur solche Lesarten hervorriefe und sein Schreiben zum Denken über größere Zusammenhänge anregte, tatsächlich stünde seine Prosa aber generell nur für eines: für sich selbst.

Fangirls und Fanboy mit Szczepan Twardochs bislang veröffentlichten Romanen in aufsteigender Reihenfolge ihres Erscheinens (v.l.n.r.)

Man ist also gezwungen zu glauben, dass, von authentischen historischen Details abgesehen, der Roman, also insbesondere das Denken und Handeln seiner Figuren bloße Fiktion sind. Dass diese Welt, in der sich alles um Geld, Alkohol, Nutten, Kokain, schnelle Waffen, luxuriöse Autos, Gewalt  und gutes Essen dreht, die Welt Shapiros ist und nicht die Twardochs. Auch wenn der einige Interessen mit seinem fiktiven Protagonisten gemein zu haben scheint. Ausgespart wurde an diesem Abend im Georg Büchner Buchladen das Lesen gewalttätiger Szenen und ausufernder Vulgarismen, von denen es im Roman nicht eben wenige, was durchaus kritisiert wurde (bspw. hier).

Ob der Roman bzw. dessen Autor der richtige Adressat dieser Kritik ist oder ob es nicht eher das Leben sein sollte, das ja leider nicht nur allem Schönen Bühne ist, sei dahingestellt. Dahingestellt sei auch, ob Detailreichtum im Falle des jüngsten Romans von Twardoch nicht eher Detailverliebtheit ist und der Autor die Fiktion nutzt, sich in einer hierdurch gedeckten Gewaltorgie zu ergehen. Fest steht, soviel kann bedenkenlos verraten werden, wer kein Blut lesen kann und literarische Schonkost bevorzugt,  dem sei dringend von „Der Boxer“ abgeraten. Fest steht auch, wer Heinz Strunks grandiosen, viel beklatschten Tatsachenroman "Der goldene Handschuh" kennt, ist hinsichtlich Literatur gewordener Vulgarismen, Gewalt und Ekel einiges gewohnt und weiß vermutlich, wie ekelerregend nah einem Literatur manchmal gehen kann. Egal, ob auf Tatsachen beruhend oder nicht - denn meist ist ja, was hier vielleicht Fiktion ist, andernorts Realität. Auf die Schonung der Leserschaft oder des Publikums jedenfalls hat der Autor es mit seinem neuen Roman nicht abgesehen. Das wird auch am Abend der Berlinpremiere spürbar. Nach knapp 90-minütiger Veranstaltung (in Worten: Gespräch zwischen Szczepan Twardoch und Olaf Kühl sowie Lesung von Passagen aus „Der Boxer“ auf Deutsch durch Anne Lebinsky), riecht der überausverkaufte [sic!] Georg Büchner Buchladen zwar nicht eben nach Blut, Sekret, Schlag- oder Boxring, nach Frischgedrucktem aber nun auch nicht mehr gerade.